Neue Wege in die „Terra incognita“ der Nuklidkarte

Neue Wege in die „Terra incognita“ der Nuklidkarte

Physik-News vom 07.06.2018
 

Hochpräzise Massenmessungen an neutronenreichen Chromisotopen: Ein wichtiger Schritt zur Erforschung bisher unbekannter Atomkerne ist Physikern des MPI für Kernphysik und der Universität Greifswald in einer internationalen Kollaboration am CERN gelungen. Sie haben die Massen von 6 neutronenreichen Chrom-Isotopen mit bisher unerreichter Präzision bestimmt. Im Zusammenspiel mit theoretischen Kernphysikern der TU Darmstadt können neue Vielteilchenrechnungen getestet werden. Daraus ergeben sich wichtige Erkenntnisse zur Stabilität dieser exotischen Kerne, die auch für astrophysikalische Prozesse bei der Entstehung schwerer Elemente von Bedeutung sind

Wissenschaftler des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik und des Instituts für Physik der Universität Greifswald haben in Kollaboration mit Forschern von mehreren weiteren internationalen Instituten mit dem Massenspektrometer ISOLTRAP am CERN die Massen von sechs exotischen Chromisotopen der Massenzahl 58 bis 63 mit hoher Genauigkeit bestimmt. Zusammen mit neuen theoretischen Rechnungen liefern die Untersuchungen wichtige Einsichten zum Verständnis des Aufbaus der Atomkerne sowie zur Entstehung der chemischen Elemente.


Nuklidkarte mit farbiger Markierung der bekannten Kerne nach ihren Zerfallsarten. Schwarz: stabil, blau/rot: Betazerfall, gelb: Alphazerfall. Grün schattiert: „Terra incognita“.

Publikation:


M. Mougeot, D. Atanasov, K. Blaum, K. Chrysalidis, T. Day Goodacre, D. Fedorov, V. Fedosseev, S. George, F. Herfurth, J. D. Holt, D. Lunney, V. Manea, B. Marsh, D. Neidherr, M. Rosenbusch, S. Rothe, L. Schweikhard, A. Schwenk, C. Seiffert, J. Simonis, S. R. Stroberg, A. Welker, F. Wienholtz, R. N. Wolf, and K. Zuber
Precision Mass Measurements of 59-63Cr: Nuclear Collectivity Towards the N = 40 Island of Inversion
Physical Review Letters 120, 232501 (2018)

DOI: 10.1103/PhysRevLett.120.232501



Die Nuklidkarte spielt in der Kernphysik eine ähnliche Rolle wie das Periodensystem der Elemente in der Chemie. Die Eigenschaften eines bestimmten Atomkerns (Nuklid) sind hauptsächlich durch die Anzahl seiner Bestandteile (Nukleonen) – Protonen (positiv geladen) und Neutronen (neutral) – und seine Masse bestimmt. Die Protonenzahl bestimmt das chemische Element, zu dem es eine jeweils Reihe von Nukliden mit verschiedener Neutronenzahl gibt: die Isotope. Auf der Nuklidkarte sind alle bekannten Nuklide als Tabelle mit nach oben zunehmender Protonenzahl und nach rechts zunehmender Neutronenzahl grafisch dargestellt (Abb. 1). Ganz links unten findet sich das einzelne Proton als einfachster Kern des Wasserstoffatoms. Rechts oben die schwersten (künstlich erzeugten) Nuklide. Nur ein kleiner Teil der Nuklide ist stabil (schwarz); diese befinden sich im „Tal der Stabilität“, das für schwerere Kerne einen zunehmenden Neutronenüberschuss aufweist. Alle anderen unterliegen als Radionuklide verschiedenen radioaktiven Zerfällen (farbig hervorgehoben). Derzeit kennt man insgesamt ca. 3300 Nuklide. Davon sind 253 stabil, gut 80 Radionuklide kommen auf der Erde natürlich vor, alle anderen wurden künstlich erzeugt.


Zwei-Neutronen-Separationsenergie für neutronenreiche Chrom-Isotope mit schematischer Extrapolation in den unbekannten Bereich vor (hellblau) und nach (hellorange) den neuen Ergebnissen.

Allerdings ist nicht genau bekannt, wie viele Nuklide es tatsächlich gibt. Neben der Radioaktivität gibt es aber fundamentale Grenzen der Stabilität, an denen ein weiteres zusätzliches Proton bzw. Neutron nicht mehr gebunden würde. Die Gesamtzahl der bisher größtenteils unerforschten Nuklide wird auf ungefähr 4000 geschätzt. Sie mögen exotisch wirken, sind aber z.B. für die Synthese schwererer Elemente jenseits von Eisen von Bedeutung. Das Stabilitätstal der Nuklidkarte ist in der Gegend um Eisen am tiefsten, d.h. nur bis hier kann im Zentrum von Sternen durch Kernfusion Energie gewonnen werden. Elemente wie Gold oder Blei entstehen beim Verschmelzen von Neutronensternen sowie in Sternexplosionen (Supernovae). Die dabei beteiligten radioaktiven Zerfallspfade folgen wie Schachfiguren festen „Zugregeln“ und es ist entscheidend, welche Flächen auf dem Spielfeld der Nuklidkarte zur Verfügung stehen.

Da die paarweise Korrelation von zwei Protonen oder Neutronen im Atomkern einen wichtigen Beitrag liefert, wird als Maß für die Bindungsstärke auch die Zwei-Neutronen-Separationsenergie betrachtet, d.h. die Energie, die aufgebracht werden muss, um zwei Neutronen aus einem Kern zu entfernen. Mit zunehmender Entfernung zum Stabilitätstal wird diese immer kleiner, bis beim Wert Null die Grenze der Stabilität erreicht ist. Diese extrem neutronenreichen Nuklide sind aber so instabil und zugleich schwierig herzustellen, dass z.B. für Vorhersagen der Synthese schwerer Elemente die Separationsenergien von den bekannten Messwerten mit Unterstützung von theoretischen Modellen extrapoliert werden müssen. Hinzu kommt, dass die Separationsenergie nicht gleichmäßig fällt, sondern bei bestimmten „magischen“ Nukleonenzahlen Sprünge aufweist. Entsprechend herausfordernd wird dann die Extrapolation auf die Nulllinie.

Bei den neuen Messungen wurde die Genauigkeit gegenüber früheren Experimenten um bis zu einem Faktor 300 verbessert. Auch mussten die Forscher Neuland betreten, um diese Nuklide überhaupt zu erzeugen und ihre Masse innerhalb ihrer kurzen Lebensdauer von teilweise nur wenigen Zehntelsekunden präzise zu bestimmen. Über Einsteins berühmte Gleichung zur Äquivalenz von Masse und Energie, E = mc², kann aus der Masse die Bindungsenergie und damit die Zwei-Neutronen-Separationsenergie bestimmt werden. Abbildung 2 zeigt das Ergebnis der neuen Messungen für neutronenreiche Chromisotope. Der in früheren Daten nur angedeutete und zudem unklare Trend eines deutlich geringeren Abfalls der Separationsenergie zu höheren Neutronenzahlen wurde bestätigt. Dieses Verhalten wird auch durch phänomenologische Modelle, die eine Deformation des Atomkerns begünstigen sehr gut wiedergegeben. Neue Vielteilchenrechnungen, die „ab initio“ ohne phänomenologische Näherungen auskommen und dabei nur an leichte Kerne angepasst wurden, sagen die Messdaten bis ⁵⁹Cr ebenfalls sehr gut voraus, ergeben aber für noch neutronenreichere Chrom-Isotope eine zu schwache Bindung. Für die Weiterentwicklung dieser mikroskopischen Rechnungen ist das Zusammenspiel mit den neuen Messdaten sehr wichtig: es gibt klare Hinweise, dass die Deformation des Kerns hier noch besser berücksichtigt werden muss.

Die neuen Resultate sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg in unbekanntes Terrain der Nuklidkarte, dem weitere folgen werden. Einen wesentlichen Beitrag wird das neue Internationale Beschleunigerzentrum FAIR in Darmstadt leisten, welches eine Produktion von mehreren 100 neuen Isotopen verspricht. Erste Präzisionsmassenmessungen an diesen Isotopen sind für 2025 vorgesehen.


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Informationsdienstes der Wissenschaft (idw) erstellt


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