Der Blick durchs Schlüsselloch

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Physik-News vom 13.06.2018
 

Krankheitsepidemien, Börsencrashs und neuronale Netzwerke im Gehirn können dank Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation zukünftig besser untersucht werden.

Wenn wir komplexe oder räumlich ausgedehnte Systeme untersuchen, können wir oft nur einen Bruchteil aller beteiligten Komponenten beobachten. Wie können wir trotzdem Rückschlüsse über das Gesamtsystem ziehen? Forscherinnen und Forscher des Göttinger Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) haben nun erstmals eine Methode entwickelt, die solche Untersuchungen viel genauer und zuverlässiger machen kann. Ihre Ergebnisse erschienen heute in Nature Communications (Nature Communications 9 (2018) 2325).


Jens Wilting und Viola Priesemann zeigen den Kern ihrer mathematischen Herleitungen.

Publikation:


Jens Wilting & Viola Priesemann
Inferring collective dynamical states from widely unobserved systems
Nature Communicationsvolume 9, Article number: 2325 (2018)

DOI: 10.1038/s41467-018-04725-4



Was können wir über ein System lernen, wenn wir nur einen winzigen Teil davon beobachten können? Was können wir zum Beispiel über das Gehirn aussagen, wenn wir nur die Aktivität von einigen Hundert der Millionen oder Milliarden Neuronen messen können? Genau dieser Frage gehen Dr. Viola Priesemann, Leiterin der Max-Planck-Forschungsgruppe für die Theorie Neuronaler Systeme am MPIDS, und ihr Mitarbeiter Jens Wilting nach. Denn im Rahmen ihrer Forschung an der Dynamik neuronaler Netzwerke standen sie vor einem Problem, das weit über die Hirnforschung hinaus relevant ist: Fast immer, wenn wir versuchen, ein räumlich ausgedehntes System mit vielen zusammenwirkenden Komponenten zu untersuchen, kann nur ein winziger Bruchteil dieses Systems beobachtet werden. Beispielsweise haben viele Krankheiten eine hohe Dunkelziffer, die eine Charakterisierung des Ausbreitungsverhaltens in der Bevölkerung erschwert; genauso kann in den meisten Ökosystemen die Verbreitung und Vermehrung von vielen Spezies nur grob abgeschätzt werden. Eine verlässliche Charakterisierung dieses Ausbreitungsverhaltens wäre jedoch unerlässlich, um beispielsweise das Risiko großer Krankheitsausbrüche oder den Impfschutz der Bevölkerung besser abschätzen zu können. Für diese Fälle entwickelten die Göttinger Forscher eine neue Methode, die es erlaubt, auch bei unvollständiger Datenlage eine viel verlässlichere Charakterisierung zu treffen, als es bis jetzt möglich war.

"Unsere Methode erlaubt uns, den dynamischen Zustand des Gesamtsystems zu charakterisieren, selbst wenn nur ein kleiner Teil des Systems beobachtet werden kann. Das ist so, als würde jemand das Zusammenspiel beim Fußball erforschen wollen, bei dem die Kamera nur einige wenige der Spieler verfolgt. Wir konnten zeigen, dass herkömmliche Methoden nicht berücksichtigten, dass das Zusammenspiel der beobachteten Komponenten oft nicht repräsentativ für das Zusammenspiel aller Komponenten ist. Daher liefern diese Methoden stark verzerrte Ergebnisse. Im Gegensatz dazu bringt unsere neue Methode das beobachtete Verhalten an verschiedenen Zeitpunkten so in Relation zueinander, dass die nicht beobachteten Informationen ersetzt werden können", erklärt der Erstautor der Studie Jens Wilting. Das besagte „Gesamtsystem“ kann dabei recht frei gewählt werden. Dem Algorithmus ist es beispielsweise egal, ob er die Ausbreitung von Infektionen, die Dynamik von Finanzmärkten, oder die Zusammenarbeit des neuronalen Netzwerks eines Lebewesens analysieren soll.

Infektionsausbruch unter Kontrolle

Um die neue Methode zu testen, haben die Wissenschaftler zuerst die deutschlandweiten Krankheitsdaten von drei Infektionskrankheiten, die an das Robert-Koch-Institut gemeldet werden müssen, analysiert. Wie zu erwarten war, hat der Schätzer den höchst ansteckenden Norovirus als die größte Gefahrenquelle für große Krankheitsausbrüche eingeschätzt, wogegen die Masern, für die ein flächendeckender Impfschutz und Immunität besteht, sich deutlich geringer ausbreiten. Wichtig dabei: Die Abschätzung der Ausbreitung war sogar noch korrekt, wenn die Forscher 99 % der Daten weggelassen haben. Sie haben sozusagen angenommen, dass nur 1 % aller Infizierten zum Arzt gehen würden. Das zeigt, dass die Methode sehr robust ist, selbst wenn nur ein kleiner Teil des Systems beobachtet werden kann. Zuletzt untersuchten die Forscher die Ausbreitung von multiresistenten MRSA-Keimen, die oft in deutschen Krankenhäusern gefunden werden und insbesondere für Menschen mit geschwächtem Immunsystem sehr gefährlich werden können. Da eine Ansteckung bei den meisten Menschen allerdings symptomfrei verläuft, kann hier eine besonders hohe Dunkelziffer vermutet werden. Daher ist die neue Methode für diesen Fall besonders nützlich. Interessanterweise hat die Untersuchung ergeben, dass kaum eine direkte Weitergabe von MRSA-Keimen innerhalb der Bevölkerung stattfindet. Dies spricht dafür, dass die direkte Übertragungsrate außerhalb von Pflegeeinrichtungen immer noch recht niedrig ist. Es wird allerdings befürchtet, dass sich dies im Laufe der Zeit ändern und sich das Gefahrenpotenzial damit drastisch erhöhen könnte. Der neue Schätzer kann mithilfe der Daten, die vom Robert-Koch-Institut ohnehin schon erhoben werden, dabei helfen, die möglichen Erkrankungsrisiken besser im Auge zu behalten.

Die Geheimnisse des menschlichen Verstands entlocken

Ihre Methode des Schätzens lässt sich auch auf die neuronalen Aktivitäten im Gehirn anwenden, denn das Gehirn besteht aus vielen Milliarden Neuronen. Von diesem komplexen System kann nur ein winziger Bruchteil gleichzeitig vermessen werden. Das menschliche Gehirn zum Beispiel hat 80 Milliarden Neuronen – zehnmal mehr als es Menschen auf der Erde gibt. Nur von etwa 100 von diesen Neuronen kann die Aktivität gleichzeitig gemessen werden, zum Beispiel bei Epilepsiepatienten. Gerade bei diesen Patienten ist es besonders wichtig, genau zu wissen, wie sensitiv das Netzwerk ist, und wie leicht sich Anfälle entwickeln. Aber auch um die grundlegende Informationsverarbeitung im Gehirn zu verstehen braucht man ein Verständnis der Sensitivität und Verstärkungseffekte im Gehirn. Überraschenderweise zeigt die Analyse der Göttinger Forscher, dass viele klassisch betrachtete Eigenschaften einzelner Neuronen so gut wie identisch sind, egal wie sensitiv sich das Gehirn als Ganzes verhält. Erst die neue Methode macht eine präzise Charakterisierung der zugrunde liegenden Netzwerkdynamik möglich. „Die Methode ist für die Forschung an neuronalen Netzwerken sehr hilfreich. Langfristig hoffen wir auf ein klares Verständnis, wie die verschiedenen Schaltkreise im Gehirn zusammenarbeiten, wenn wir einen neuen Gedanken entwickeln“, kommentiert Viola Priesemann. Die erste Anwendung der vielversprechenden Göttinger Methode liegen für die Forscher auf der Hand: Sie wollen sie verwenden, um zusammen mit Forschern aus Berkeley und Bozeman in den USA die Zusammenarbeit der verschiedenen Gehirnareale bei Gedächtnisaufgaben genau zu untersuchen.


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Informationsdienstes der Wissenschaft (idw) erstellt


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