Operation Overcast

Operation Overcast

V2 auf einer Startrampe der White Sands Proving Grounds

Die Operation Overcast (engl. overcast = bedeckt, wolkenverhangen) war ein militärisches Geheimprojekt der USA, um nach der Niederlage Nazideutschlands am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 deutsche Wissenschaftler und Techniker zu rekrutieren und sich deren militärtechnisches Können und Wissen zu sichern.

Unter dem Codenamen Operation Paperclip (engl. paperclip = Büroklammer) fand darauf die Verlegung deutscher Kriegs- und Zivilgefangener in die USA statt, die meisten waren Wissenschaftler oder in der Industrie tätig.

Später wurde der Begriff Project Paperclip für die Einbürgerung der Wissenschaftler und die Fortsetzung der Operation Overcast verwendet, und auch heute werden die Begriffe oft fälschlich vertauscht.

Grundlage und Vorgeschichte

Grundlage der Operation war ein geheimes Dokument der Joint Chiefs of Staff, datiert vom 6. Juli 1945 – also kurz nach dem Ende des Krieges in Europa und noch vor der Niederlage Japans. Die Grundüberlegungen begannen allerdings schon Jahre vorher und sind damit zu erklären, dass in den USA die umfassende Demobilisierung und Unterbrechung der militärischen Forschung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von vielen Politikern und Militärs rückblickend als Fehler beurteilt wurde. Die wachsenden Gegensätze zur unmittelbar vorher noch verbündeten Sowjetunion unter Stalin waren vielen im Generalstab bewusst und wurden möglicherweise dort auch geschürt. Die Operation Overcast ist vor allem unter dem Gesichtspunkt zu sehen, durch das Aneignen deutscher Militärtechnik eigene Entwicklungsarbeit zu verkürzen und sich für ein zukünftiges Wettrüsten zu positionieren. Gleichzeitig sollten diese Wissenschaftler und Techniker dem Zugriff der UdSSR und deren Rüstungsindustrie entzogen werden. Die deutsche Militärtechnik war den Alliierten in vielen Bereichen um Jahre voraus, speziell bei Strahltriebwerken und deren Einsatz in Marschflugkörpern und Strahlflugzeugen (V1, Heinkel He 178, Messerschmitt Me 262), sowie Raketen (V2).

Auswahlkriterien

Die Zahl der Wissenschaftler wurde auf 450 begrenzt, die zunächst für sechs Monate ohne Angehörige in die USA geholt werden sollten, um sie dort auf die verschiedenen Teilstreitkräfte (Heer, Luftwaffe, Marine) zu verteilen. Im Kontingent sollten sich keine überführten Kriegsverbrecher befinden. Jeder, der als solcher erkannt würde, sollte nach Deutschland zurückgeschickt werden. Als im Jahr 1946 klar war, dass die Forscher länger in den USA bleiben würden, sich teilweise hier niederlassen und ihre Ehefrauen und Familien nachziehen lassen würden, folgten äußerst lockere Regelungen, um beispielsweise die NSDAP- und SS-Mitgliedschaft Wernher von Brauns zu rechtfertigen. Faktisch spielten NS-Belastungen bei der Auswahl keine Rolle, sorgfältig gesiebt wurde angesichts des begrenzten Kontingents bezüglich der fachlichen Qualifikation. Dies ist umso bemerkenswerter, weil gleichzeitig im Rahmen der Nürnberger Prozesse beispielsweise der zuständige Rüstungsminister Albert Speer zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde – nicht zuletzt wegen der im Rahmen der Rüstungsproduktion massenhaft eingesetzten Zwangsarbeiter. Auch die V2-Produktion in der Fertigungsanlage Dora-Mittelbau erfolgte unter unmenschlichen Bedingungen und Zwangsarbeit. Für die verantwortlichen Wissenschaftler und Techniker blieb das genauso ohne Konsequenzen wie die zivilen Opfer der V1- und V2-Angriffe beispielsweise auf London. Ganz offensichtlich überwog hier das militärtechnische Eigeninteresse der USA. Innerhalb der US-amerikanischen Öffentlichkeit war diese Vorgehensweise, die Immigration von Nazis, zunächst umstritten.

Die „Paperclip Boys“

Unter dem Decknamen Operation Paperclip wurde noch im Sommer 1945 die erste Gruppe von Wissenschaftlern in die USA gebracht. Der Name Paperclip (deutsch: ‚Büroklammer‘) leitete sich von den in den entsprechenden Akten eingesteckten Büroklammern ab, welche die Seiten mit relevanten Wissenschaftlern kennzeichneten, die in die USA zu überführen waren.

Die Wissenschaftler wurden auch Paperclip Boys genannt. Ursprünglich sollten 100 einreisen, tatsächlich betrug dieses Kontingent 127 Personen. Kern der Wissenschaftlergruppe war die unter der Führung von Wernher von Braun stehende Gruppe von Raketenexperten der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, die während des Winters 1945/46 in Bad Kissingen im Hotel „Wittelsbacher Hof“ untergebracht war und zu Jahresbeginn 1946 in die USA verbracht wurde.[1]

Das Paperclip-Team in Fort Bliss, siebter von rechts in der ersten Reihe: Wernher von Braun

Spätestens 1946 war klar, dass es nicht bei der ursprünglich geplanten Aufenthaltsdauer von sechs Monaten bleiben würde, auch die ursprüngliche Höchstzahl von 350 Personen galt als nicht mehr ausreichend. Ein gemeinsames Komitee aus Heer, Marine und Außenministerium erarbeitete Grundsatzentwürfe, wie zusammen mit Großbritannien eine Ausweitung und Fortführung des Programms geregelt werden sollte. So wurde die Anzahl der Betroffenen auf insgesamt 1000 erhöht sowie der Nachzug der Familien bis hin zur späteren Einbürgerung geregelt. Diese Grundsätze wurden in einem geheimen Dokument mit dem Titel Einsatz der österreichischen und deutschen Wissenschaftler im Rahmen des Projekts Paperclip fixiert. Neben dem Begriff Operation Paperclip wird hier auch der Name Project Paperclip für dieses „Unterprojekt“ eingeführt und auch für die Operation Overcast allgemein verwendet, die damit nicht mehr klar zu trennen sind. Am 13. September 1946 unterzeichnete US-Präsident Harry S. Truman das Dokument. Die „Grundsatzerklärung“ trat am 24. Oktober in Kraft. Erst jetzt wurde die Anwesenheit der deutschen Nazi-Wissenschaftler der amerikanischen Öffentlichkeit durch die Massenmedien bekanntgegeben, die darauf überwiegend mit Unverständnis und Ablehnung reagierte.

Mit den Technikern wurde auch die komplette nach dem Krieg übriggebliebene Technik verschifft, sofern sie in die Hände der darauf angesetzten amerikanischen Einheiten gefallen war. Dies waren im Wesentlichen noch nicht gestartete V2-Raketen und teilweise fertiggestellte Raketenmotoren aus Peenemünde und aus der KZ-Fertigungsanlage Dora-Mittelbau, die sonst der UdSSR zugefallen wären.

In Fort Bliss (Texas) und White Sands (New Mexico) sollten sie an der Weiterentwicklung der amerikanischen Raketentechnik forschen. Zwischen April 1946 und Oktober 1951 wurden 66 V2-Raketen testweise in White Sands gestartet. Einige waren mit Pflanzen, manche sogar mit Versuchstieren bestückt, die alle bei den Landeaufschlägen getötet wurden. Ab Ende 1951 wurden die Starts nach Cape Canaveral (Florida) verlegt. Daraus erwuchsen lange danach die bemannten Raumfahrtprogramme, die zur Mondlandung führten.

Rekrutierte Wissenschaftler und Ingenieure

Im Rahmen der Operation Paperclip

Wernher von Braun und Mitarbeiter im Herbst 1959 in Huntsville (Alabama). Von links: Ernst Stuhlinger, Friedrich von Saurma, Fritz Müller, Hermann Weidner, Erich W. Neubert (teilweise verdeckt), Willy Mrazek, Karl Heimburg, Arthur Rudolph, Otto Hoberg, von Braun, Oswald Lange, General Bruce Medaris, Helmut Hölzer, Hans Maus, Ernst Geissler, Hans Hüter und George Constan.
Wernher von Braun mit Mitarbeitern 1961. Von links nach rechts: Werner Kuers, Walter Häussermann, Willy Mrazek, von Braun; Dieter Grau, Oswald Lange und Erich W. Neubert.

Eine Abschrift aus dem US-Nationalarchiv, veröffentlicht als Harry Brunser Report, enthält insgesamt ca. 500 Namen.[3]

Nach der Operation Paperclip

Verbleib und weitere Verwendung

Ein Teil der Wissenschaftler blieb in den USA. Einige wie Kurt Blome, Heinz Haber, Hermann Oberth, Harry O. Ruppe und Carl Wagner kehrten nach Deutschland zurück. Auch nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben ist der eine oder andere Wissenschaftler wieder nach Deutschland übergesiedelt. In einzelnen Fällen, zum Beispiel bei Arthur Rudolph, gab es später Ermittlungen wegen der NS-Verbrechen, Ausweisungen und eine Aberkennung der US-Staatsbürgerschaft.

Konkurrenz zu anderen Staaten

Lager Friedland, Heimkehr der Wissenschaftler aus der Zwangsarbeit in Sochumi, Februar 1958

Mit ihrem Programm zur Nutzbarmachung der „Gehirne“ standen die USA keineswegs allein. Alle Siegermächte hatten ähnliche Programme mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So bemühte sich Großbritannien um deutsche Marineexperten, hatte aber – wie auch andere Siegermächte – damit Probleme, da ein Großteil der Bevölkerung aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Großbritannien gegen die Einwanderung deutscher Wissenschaftler war.

Der Chefkonstrukteur des sowjetischen Raketenprogramms Sergei Pawlowitsch Koroljow wurde 1945 nach Berlin beordert. Er bekam im Rahmen der Aktion Ossawakim den Auftrag, Mitarbeiter Wernher von Brauns ausfindig zu machen, die sich nicht in die USA abgesetzt hatten. Mit etwa 150 deutschen Wissenschaftlern und ihren Familien kehrte er 1946 in die Sowjetunion zurück. Neben anderen arbeiteten in dieser Zeit der Assistent Wernher von Brauns, Helmut Gröttrup, und der Aerodynamiker Werner Albring unter der Leitung Koroljows auf der Insel Gorodomlja (heute Siedlung Solnetschny) im Seligersee, Gebiet Twer, im nordwestlichen Teil von Zentralrussland. Zwischen Juni 1951 (in die damalige DDR) und dem 28. Juni 1953 (in die Bundesrepublik Deutschland) konnten sie wieder nach Deutschland zurückkehren. Eine kleine Gruppe von Elektronik-Experten unterzeichnete Fünfjahresverträge und erlebte in Moskau den Start des russischen Weltraumprogramms mit dem Erstflug des Sputnik.

Bei Kriegsende fiel die Ju 287 V1 bei Junkers in Dessau in sowjetische Hände. Unter sowjetischer Aufsicht wurden die V2 und V3 fertiggestellt und im September Personal und Flugzeuge nach Podberesje bei Moskau verlegt. Die Entwicklung des Baumusters wurde unter der Leitung von Brunolf Baade fortgesetzt. Unter Baade wurde in der UdSSR auch der zweimotorige Bomber Modell 150 entwickelt. Die Sowjetunion zwang bei der Aktion Ossoawiachim etwa 2000 Wissenschaftler aus der Ostzone für Technik und Wissenschaft in die Sowjetunion.

Der große Einfluss deutscher Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker auf die Militärtechnik der beiden Supermächte dokumentiert sich vor allem in der Flugzeug- und Raketenproduktion im ersten Nachkriegsjahrzehnt. So standen sich zum Beispiel im Koreakrieg ab 1950 mit der amerikanischen F-86 Sabre und der sowjetischen MiG-15 zwei Maschinen gegenüber, die das Tragflächenprofil der Me 262 verwendeten.

Beschlagnahme aller deutschen Patente und Industriegeheimnisse

Alle deutschen Patente und Industriegeheimnisse wurden 1945 bis 1947 von den USA beschlagnahmt, was nach Professor John Gimbel in Science Technology and Reparations: Exploitation and Plunder in Postwar Germany eine durchgreifende Beraubung des deutschen technischen Wissens darstellte. Nach John Gimbel betrug der Wert fast 10 Milliarden (1945) US-Dollar.[4] Zum Vergleich: Die ganze Marshall-Plan-Hilfe in die europäischen Länder betrug von 1948 bis 1952 13 Milliarden US-Dollar, von denen Deutschland 1,4 Milliarden US-Dollar erhielt (ursprünglich als Darlehen).

Beschlagnahmt wurden Elektronenmikroskope, Kosmetik, Textilmaschinen, Tonbandgeräte, Insektizide, eine einzigartige Schokolade-Verpackungsmaschine, ein Miststreuer, Schlittschuhschleifer, Papierserviette-Maschinen und andere Technologien.[5]

Auch die Briten bemächtigten sich Geschäftsgeheimnissen durch Entführung deutscher Wissenschaftler und Techniker sowie durch Internierung deutscher Geschäftsleute, wenn diese Informationen nicht preisgaben.[6] Konrad Adenauer schrieb, dass der Schaden an der deutschen Wirtschaft sehr hoch war und sich kaum beziffern ließ.[7]

Nach Konrad Adenauer haben die Patente der I.G. Farben laut einem amerikanischen Sachverständigen der US-Chemieindustrie einen Vorsprung von wenigstens zehn Jahren gegeben.[8]

Verhaftung und Internierung

Projekt Safehaven war ein US-amerikanisches Programm, um die deutsche Forschung zu stoppen und die deutschen Forscher von der Emigration in Länder wie Spanien oder Argentinien abzuhalten. Die US-Streitkräfte konzentrierten sich auf Sachsen und Thüringen, wohin viele deutsche Forschungseinrichtungen aus Berlin evakuiert worden waren. Bis 1947 wurden mit dieser Operation schätzungsweise 1800 Techniker und Wissenschaftler zusammen mit 3700 Familienmitgliedern interniert.[9]

Siehe auch

  • Geschichte der Deutschen in den Vereinigten Staaten

Literatur

  • Tom Bower: Verschwörung Paperclip. NS-Wissenschaftler im Dienst der Siegermächte. List, München 1988, ISBN 3-471-77164-6.
  • Uwe Obier: Operation Paperclip. Der Katalog anlässlich der Ausstellung „Operation Paperclip“ in den Museen der Stadt Lüdenscheid vom 6. Januar – 22. Januar 1995. Stadt Lüdenscheid 1994, ISBN 3929614154.
  • Uraufführung des Musicals „Mission Apollo-ein Menschheitstraum wird wahr“ am 26. Juni 2009 in Trossingen, basierend auf der Biografie von Eberhard Rees.
  • Annie Jacobsen: Operation Paperclip, The Secret Intelligence Program that Brought Nazi Scientists to America. Little, Brown and Company, 2014, ISBN 978-0316277440.
  • Franz Kurowski: Alliierte Jagd auf deutsche Wissenschaftler – Das Unternehmen Paperclip. Verlag Kristall bei Langen-Müller, München 1982, ISBN 3-607-00049-2.
  • Volker Neipp: Mit Schrauben und Bolzen auf den Mond – Das unglaubliche Lebenswerk von Dr. Eberhard F.M. Rees. Mit bislang unveröffentlichten Dokumenten, unter anderem die privaten Briefe eines unbekannten Paperclippers aus den USA an die Familie in Deutschland, über 200 Fotos etc. – Von Peenemünde bis zur letzten Mondmission. Springerverlag, Trossingen 2008, ISBN 978-3-9802675-7-1.

Weblinks

Commons: Operation Paperclip – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Aussage eines damals in Bad Kissingen tätigen Meteorologen, der täglich im Hotel „Wittelsbacher Hof“ zu Mittag aß und v. Braun dort im Winter 1945 erkannte. In einer Quelle heißt es darüber: „Schließlich wohnten im Wittelsbacher Hof in Bad Kissingen 120 deutsche Spezialisten, zum Teil mit ihren Familien. US-Posten bewachten das Hotel von allen Seiten. Dennoch gelang es zwei französischen Nachrichten-Offizieren, in den Wittelsbacher Hof einzudringen und, von Zimmer zu Zimmer gehend, mit den Forschern zu diskutieren. Sie versprachen ihnen goldene Berge, falls sie nach Frankreich kommen würden. Als die Amerikaner dagegen einschritten, war es bereits zu spät. Einige Wissenschaftler hatten sich überzeugen lassen und waren mit den Franzosen gegangen.“ (Franz Kurowski: Alliierte Jagd auf deutsche Wissenschaftler. Kristall, München 1982, Seite 115)
  2. Millinger: Über Peenemünde ins All. Epub 2006 (Memento vom 28. Mai 2009 im Internet Archive)
  3. Harry Brunser Report
  4. Norman M. Naimark, The Russians in Germany. S. 206 ff.
  5. Jean Edward Smith: Feature Review American Exploitation of Postwar Germany. Diplomatic History, Volume 17 Issue 1, S. 135–142.
  6. How T-Force abducted Germany’s best brains for Britain – Secret papers reveal post-war campaign to loot military and commercial assets, Ian Cobain, The Guardian, 29. August 2007.
  7. Konrad Adenauer: Erinnerungen. Bd. 1, Erinnerungen 1945–1953. engl. Ausgabe 1966, S. 148.
  8. Konrad Adenauer: Erinnerungen. Bd. 1, Erinnerungen 1945–1953. engl. Ausgabe 1966, S.148.
  9. John Gimbel: U.S. Policy and German Scientists. The Early Cold War. Political Science Quarterly, Vol. 101, No. 3, 1986, S. 433–451.