Welche Galaxien hat sich unsere Milchstraße einverleibt?

Welche Galaxien hat sich unsere Milchstraße einverleibt?

Physik-News vom 17.02.2022
 

Astronominnen und Astronomen haben einen Atlas der Verschmelzungen kleinerer Galaxien mit unserer Heimatgalaxie erstellt. Dazu werteten sie anhand von Daten der ESA-Mission Gaia 257 Sternströme, Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien statistisch aus. So konnten die Forscherinnen und Forscher sechs Verschmelzungen identifizieren, inklusive eines bislang unbekannten Ereignisses, das von den Forscherinnen und Forschern auf den Namen "Pontus" getauft wurde. Die neuen Ergebnisse sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Rekonstruktion der Milliarden Jahre währenden Geschichte unserer Galaxie.

Auf künstlerischen Darstellungen der Milchstraße sieht unsere Heimatgalaxie wie eine leuchtende Scheibe aus Sternen aus. Einige davon bilden ein Muster wirbelnder Spiralarme. Weniger auffällig, aber dennoch interessant, ist der stellare Halo unserer Galaxie: eine riesige kugelförmige Region aus Sternen, die die gesamte galaktische Scheibe samt umliegender Regionen umgibt. Nach unserem derzeitigen Wissen zur Entstehung und Entwicklung der Milchstraße finden sich in diesem Halo die ältesten Sterne in unserer Galaxie.


Die Milchstraße und die Sternströme (farbige Punkte), Kugelsternhaufen (Sternsymbole) und Zwerggalaxien (kleine Würfel), die Khyati Malhan und Kolleg*innen nutzten, um ihren Atlas von Verschmelzungen mit unserer Heimatgalaxie zu erstellen.

Publikation:


K. Malhan et al.
The Global Dynamical Atlas of the Milky Way mergers: constraints from Gaia EDR3 based orbits of globular clusters, stellar streams and satellite galaxies
Astrophysical Journal

Der stellare Halo ist dabei so etwas wie ein Archiv der Wechselwirkungen unserer Heimatgalaxie mit ihrer Umgebung. Von Zeit zu Zeit kommt eine kleinere Galaxie der Milchstraße so nahe, dass die Schwerkraft unserer Heimatgalaxie sie einfängt. Die Schwerkraft unserer eigenen Galaxie wirkt dabei stärker auf diejenigen Teile der eingefangenen Galaxie, die uns näher sind, und schwächer auf diejenigen Teile, die weiter entfernt sind. Durch dieses ungleiche Ziehen wird dir eingefangene Galaxie zu einem länglichen Strom von Sternen und Gas auseinandergezogen, der als Sternstrom bezeichnet wird. Dieser Sternstrom umkreist dann weiterhin den Halo, auch wenn sich seine Sterne im Laufe der kommenden Milliarden Jahre immer mehr verlaufen.

Der Weg zur Verschmelzungs-Karte

Weitere Bestandteile der kleineren Galaxie dürften ebenfalls in unserem Halo erhalten geblieben sein. Galaxien enthalten so genannte Kugelsternhaufen: kompakte Haufen von (meist älteren) Sternen, die durch ihre gegenseitige Schwerkraft stark aneinander gebunden sind. Außerdem werden Galaxien normalerweise von noch kleineren Satellitengalaxien umkreist. Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien einer kleineren Galaxie, die mit der Milchstraße verschmolzen ist, landen ebenfalls im Halo der Milchstraße.

Die neue Studie unter der Leitung von Khyati Malhan, einem Postdoktoranden am Max-Planck-Institut für Astronomie [MPIA], ist ein ehrgeiziger Versuch, Daten über Sternströme, Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien zusammenzuführen, um auf diese Weise einen umfassenden "Verschmelzungsatlas" für die Milchstraße zu erstellen: eine Karte, die zeigt, welche der sichtbaren Objekte Überbleibsel welcher Verschmelzungen sind, die unsere Heimatgalaxie durchgemacht hat.

Genaue Daten von der ESA-Mission Gaia

Die Analyse war nur möglich, weil vor kurzem ein einzigartiger Datensatz verfügbar wurde: die Vorab-Version des Data Release 3 (Early Data Release 3, EDR3) der Gaia-Mission der ESA. Die 2013 gestartete Gaia-Mission, deren erste Daten 2016 veröffentlicht wurden, liefert sogenannte astrometrische Daten für mehr als eine Milliarde Sterne, vor allem sehr genaue Positionen sowie Informationen über die Veränderungen der Sternpositionposition am Himmel mit der Zeit ("Eigenbewegung").

Mit Hilfe der Gaia-Daten konnte die Zahl der bekannten Sternströme bereits von rund 25 auf rund 50 verdoppelt werden. Sternströme sind am Nachthimmel nicht ohne Weiteres zu erkennen. Schaut man sich Bilder von Himmelsregionen an, auf denen die Sterne eines Sternstroms mit zu sehen sind, ist ohne eine weitergehende Analyse oft gar nicht zu erkennen, dass dort ein Sternstrom vorhanden ist. Aber die Daten von Gaia für die Eigenbewegung von Milliarden von Sternen am Himmel, die in der zweiten Datenfreigabe (DR2) durch so genannte Radialgeschwindigkeitsmessungen für 7 Millionen Sterne ergänzt wurden (ein Maß für die Bewegung eines Sterns auf uns zu oder von uns weg), ermöglichen die Rekonstruktion der Bewegung von Sternen. Und nahe beieinander liegende Sterne, die sich außerdem in etwa in die gleiche Richtung bewegen, sind ein verräterisches Indiz dafür, dass jene Sterne Teil ein und desselben Sternstroms sind.

Wirkungsvariable und eine systematische Analyse

Die Arbeit von Malhan und seinen Kolleginnen und Kollegen nutzt Gaia-Daten nicht für einzelne Sterne, sondern um die Bewegung der Sternströme, Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien im stellaren Halo zu rekonstruieren. Die Forscherinnen und Forscher fanden die notwendigen Daten mit der für ihre Rekonstruktion erforderlichen Genauigkeit im Early Data Release 3 (EDR3) der Gaia-Mission, der am 3. Dezember 2020 veröffentlicht wurde.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Bewegung in einem Gravitationspotenzial zu beschreiben, aber eine bestimmte Gruppe von Größen, sogenannte "Wirkungsvariablen", erwies sich als besonders geeignet für die vorliegende Aufgabe. Die Wirkungsvariablen ähneln bekannten physikalischen Größen wie Energie oder Drehimpuls, die sich aus der Bewegung eines Objekts errechnen lassen, sind allerdings deutlich abstrakter. Sie haben einen entscheidenden Vorteil: Verschmilzt eine kleinere Galaxie mit der Milchstraße, dann sind sich die Werte der Wirkungsvariablen für alle beteiligten Komponenten – Sterne, Satelliten, Kugelsternhaufen – untereinander sehr ähnlich, und das über den gesamten Ablauf des Verschmelzungsprozesses hinweg. Eine Auswertung der Wirkungsvariablen kann deswegen umgekehrt Aufschluss darüber geben, welche Objekte ursprünglich Teil derselben Galaxie und damit desselben Verschmelzungsprozesses waren.

Eine Verschmelzung namens Pontus

Die Forscherinnen und Forscher berechneten aus den Gaia EDR3-Daten die Werte der Wirkungsvariablen für insgesamt 170 Kugelsternhaufen, 41 Sternströme und 46 Satellitengalaxien. Ganze 62 der Objekte konnte ihre statistische Analyse tatsächlich insgesamt sechs verschiedenen Verschmelzungen zuordnen, von denen fünf bereits bekannt waren: Sagittarius, Cetus, Gaia-Sausage/Enceladus, LMS-1/Wukong und Arjuna/Sequoia/I'itoi.

Aber auch eine vorher nicht bekannte Verschmelzung entdeckten die Forscherinnen und Forscher dabei. Sie gaben der Verschmelzung und der dabei beteiligten kleineren Galaxie den Namen Pontus. Die kleinere Galaxie Pontus, die mit unserer verschmolz, bewegte sich dabei entgegengesetzt zur Rotation der Milchstraßenscheibe, und das bei vergleichsweise geringer Energie. Das könnte darauf hindeuten, dass diese spezielle Verschmelzung schon sehr lange her ist.

Verschmelzung mit einer metallarmen Galaxie

Die Analyse lieferte außerdem neue Daten über eine bereits zuvor bekannte Verschmelzung: Sie zeigte, dass drei bereits zuvor bekannte Sternströme tatsächlich ein Teil der LMS-1/Wukong-Verschmelzung waren, die 2020 entdeckt wurde. Interessanterweise sind dies die "metallärmsten" Sternströme, die wir kennen. Dabei muss man wissen: Metalle sind im Sprachgebrauch der Astronomie alle Elemente, die schwerer als Wasserstoff und Helium sind. Enthielt die Vorläufergalaxie nur sehr wenige dieser schwereren Elemente, dann ist wahrscheinlich, dass sie bereits sehr früh in der kosmischen Geschichte entstand. (Die Verschmelzung jener Galaxie mit unserer Milchstraße könnte allerdings auch erst sehr viel später stattgefunden haben.)

Für die übrigen 195 Objekte gibt es mehrere Möglichkeiten. Diese Objekte könnten Teil deutlich kleinerer Galaxien gewesen sein, die mit der Milchstraße verschmolzen sind und keine größeren Objektgruppen zurückgelassen haben. Sie könnten auch ein Hinweis auf die Grenzen der verwendeten Methode sein. Dafür spricht, dass die Forscher einen Kandidaten für eine siebte Verschmelzung durch direktes Nachschauen in ihrem Wirkungsvariablen-Diagramm fanden, während die automatische Auswertung diese und zwei andere, vorher bereits bekannte Verschmelzungen übersehen hatte. Letztlich braucht es offenbar mehrere sich ergänzende Ansätze, um die kosmische Geschichte unserer Heimatgalaxie zu rekonstruieren. Aber alles in allem machen die sechs automatisch nachgewiesenen Verschmelzungen (plus der zusätzliche Kandidat) den Großteil der geschätzten neun bis zehn Verschmelzungen mit massereicheren Galaxien aus, die unsere Heimatgalaxie in ihrem bisherigen Leben überhaupt durchgemacht hat.

Nächste Schritte

Die jetzt neu veröffentlichte Analyse liefert dabei noch keine Rekonstruktion der kosmischen Ereigniskette – sagt also nichts darüber aus, in welcher Reihenfolge der Verschmelzungen stattfanden. Diese Reihenfolge planen die Forscherinnen und Forscher in einem nächsten Schritt herauszufinden, indem sie die möglichen Abfolgen der Verschmelzungen simulieren. Klappt alles wie geplant, dann sollte der Vergleich zwischen den Ergebnissen dieser Simulationen einerseits und den verfügbaren Daten andererseits zeigen, wie sich der stellare Halo unserer Galaxie in den letzten Milliarden Jahren mehr und mehr gefüllt hat – ein Verschmelzungsereignis nach dem anderen.


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für Astronomie via Informationsdienst Wissenschaft erstellt


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