Antimaterie

Antimaterie

Antimaterie ist Materie, die aus Antiteilchen besteht. Anti-Atome haben Atomhüllen aus Positronen und Atomkerne aus Antiprotonen und ggf. Antineutronen.

Anti-Atome und -Moleküle sind in der Natur unbekannt und können nur in aufwendigen Experimenten hergestellt werden. Dagegen entstehen leichte Antiteilchen in der Natur aus der Höhenstrahlung und beim Beta-Plus-Zerfall. Es gibt auch kurzlebige exotische Atome, wie das Positronium aus einem Elektron und einem Positron, sowie Moleküle, wie Di-Positronium aus zwei Positroniumatomen.

Antiteilchen und auch Anti-Atome können in Paarbildungsreaktionen mittels Teilchenbeschleunigern erzeugt werden. Mit kleinerem Aufwand können Positronen durch Herstellung beta-plus-aktiver Radionuklide gewonnen werden. Diese Positronenstrahlung ermöglicht in der modernen Medizintechnik das wichtige bildgebende Echtzeit-Verfahren der Positronen-Emissions-Tomographie (PET).

Wenn ein Materieteilchen und sein Antiteilchen aufeinander treffen, können sie in einer Annihilations-Reaktion „zerstrahlen“. Dabei tritt die gesamte in den Teilchen steckende Energie in anderer Form wieder auf, und u. U. können andere Teilchen entstehen.

Geschichte

1898 verwendete der Physiker Arthur Schuster erstmals den Begriff Antimaterie in zwei Zuschriften an Nature. Er spekulierte über Sternensysteme aus Antimaterie, die von unserer Materie durch Beobachtung nicht unterscheidbar wären. Schon vorher hatten Karl Pearson 1892 und William Mitchinson Hicks in den 1880er Jahren von möglicher „negativer Materie“ gesprochen.[1]

1928 stellte Paul Dirac auf Grundlage der Arbeit von Wolfgang Pauli die Dirac-Gleichung auf,[2] eine relativistische, also auf der speziellen Relativitätstheorie beruhende Wellengleichung 1. Ordnung zur Beschreibung des Elektrons. Auf der Grundlage dieser Gleichung sagte Dirac die Existenz des Positrons als Antiteilchen zum Elektron voraus. Vereinfacht gesagt besteht im sogenannten Dirac-Bild der Quantenfeldtheorie das Vakuum aus einem randvoll gefüllten Dirac-See von Elektronen. Ein durch Paarerzeugung entstandenes Elektron-Positron-Paar besteht aus dem Elektron, das durch Anregung (d. h. Energiezufuhr) aus diesem Diracsee herausgeholt wurde, und dem hinterlassenen „Loch“, das das Positron darstellt. Heute werden nach der Feynman-Stückelberg-Interpretation die Zustände negativer Energie als Erzeugungsoperatoren für Antiteilchen positiver Energie interpretiert, wodurch der Dirac-See unnötig geworden ist.[3]

1932 wurde das Positron als erstes Antiteilchen von Carl David Anderson in der kosmischen Strahlung nachgewiesen.[4] Auch Antimyonen werden von der kosmischen Strahlung erzeugt, wenn sie in die Erdatmosphäre eindringt.

Das Antiproton wurde 1955 bei Experimenten am Bevatron-Teilchenbeschleuniger nachgewiesen, und das Antineutron 1956.

Eine Arbeitsgruppe unter Walter Oelert vom Forschungszentrum Jülich wies 1995 als erste am Low Energy Antiproton Ring (LEAR) des CERN einige Antiwasserstoff-Atome nach, also gebundene Systeme aus einem Antiproton und einem Positron.[5] In den beiden folgenden Jahren wiederholten Forscher am Fermilab in den USA das Experiment.

Ende 2009 wurden vom Weltraumteleskop Fermi überraschenderweise bei Gewittern Positronen entdeckt; das Teleskop sollte eigentlich nur dazu dienen, nach Gammastrahlung zu suchen.[6]

2010 wurden am CERN im Projekt ALPHA 38 Antiwasserstoff-Atome nachgewiesen, die für 172 Millisekunden in einer magnetischen Falle eingefangen waren. Für eine spektroskopische Untersuchung werden jedoch deutlich größere Mengen benötigt.[7][8] Am Nachfolgeexperiment ALPHA-2 gelang 2016 schließlich eine laserspektroskopische Untersuchung des 1s–2s-Übergangs. Wie vom CPT-Theorem vorhergesagt stimmen die Spektrallinien von Wasserstoff und Antiwasserstoff bis zu einer Genauigkeit von 2 · 10−10 überein.[9]

Im April 2011 gelang es am CERN, 309 Antiwasserstoffatome bei einer Temperatur von etwa einem Kelvin fast 17 Minuten lang einzufangen, also 5800-mal so lang wie im November 2010.[10][11] Dies wird von den Forschern des CERN und Kommentatoren allgemein als bedeutender Durchbruch beurteilt, der neue Möglichkeiten eröffnet, die Eigenschaften von Antimaterie zu erforschen. Dabei geht es zum Beispiel um mögliche Verletzungen von Symmetrien in der Teilchenphysik. Dies betrifft die Frage, warum nach dem Urknall mehr Materie als Antimaterie entstand.

Der bislang schwerste beobachtete Antimaterie-Atomkern war das ebenfalls im April 2011 am Relativistic Heavy Ion Collider erzeugte Anti-4He.[12][13]

Energiebilanz bei Reaktionen

Die Vernichtung (Annihilation) setzt die bei der Paarbildung als Masse gespeicherte Energie wieder frei. Bei der Elektron-Positron-Annihilation tritt diese als elektromagnetische Strahlung auf, im Fall schwerer Teilchen (Proton-Antiproton) teilweise auch in Form anderer Teilchen mit hoher Bewegungsenergie. Dabei wird die gesamte Masse des Teilchen-Antiteilchen-Paares umgesetzt und nicht nur, wie bei Kernspaltung und Kernfusion, ein kleiner Bruchteil (siehe Massendefekt). Die Annihilation einer gegebenen Masse von 50 % Materie + 50 % Antimaterie würde also viel mehr Energie freisetzen als die Reaktion einer gleich großen Masse von Fusionsreaktor-Brennstoff. Beispielsweise würde die Annihilation eines Wasserstoffatoms mit einem Anti-Wasserstoffatom die Energie 1,88 GeV liefern; die Fusion eines Deuteriumkerns mit einem Tritiumkern liefert dagegen nur 17,6 MeV, also etwa ein Hundertstel.

Wegen dieser hohen Speicherwirkung für Energie ist über Nutzungen von Antimaterie (in Form von Positronen) für Waffenzwecke nachgedacht worden.[14] In der Raumfahrt wurde mehrfach über den möglichen Nutzen für Antriebssysteme diskutiert.[15][16] Wissenschaftler an der Pennsylvania State University untersuchten in den Projekten AIMStar und ICAN-II in den 1990er Jahren theoretische Konzepte.[17][18] Bislang gibt es jedoch kein realistisches Konzept, wie für solche technischen Zwecke genügende Mengen von Antimaterie hergestellt, gelagert und transportiert werden könnten. Am CERN wird für das Jahr 2022 ein Antimaterie-Transport per LKW über eine Distanz von einigen hundert Metern geplant.[19]

Eine Energie-Ressource kann Antimaterie niemals sein, denn in ausbeutbarer Form kommt sie im Universum nicht vor, und ihre künstliche Herstellung erfordert mindestens die Energie, die aus ihr wieder gewonnen werden könnte.

Antimaterie im Universum

Die bisherigen Experimente und Theorien ergeben weitgehend identisches Verhalten von Materie und Antimaterie (siehe CP-Verletzung). Demnach sind nach dem heißen und dichten Anfangszustand des Universums, dem Urknall, Materie und Antimaterie in näherungsweise gleichen Mengen entstanden und kurz darauf wieder durch Annihilation „zerstrahlt“.[20]

Andererseits zeigen aber alle bisherigen Beobachtungen im Kosmos nur die „normale“ Materie. Sie muss das Überbleibsel eines geringen Ungleichgewichts zu Beginn des Universums sein. Frühere Vermutungen, dass das Universum in einigen Bereichen mit Materie, in anderen mit Antimaterie gefüllt sei, gelten heute als unwahrscheinlich. Es wurde bislang keine Annihilationsstrahlung, die an den Grenzgebieten entstehen sollte, nachgewiesen. Die direkte Suche nach Anti-Helium-Atomkernen in der kosmischen Strahlung, die 1998 mit einem Alpha-Magnet-Spektrometer an Bord eines Space Shuttle erfolgte, blieb ergebnislos: es wurden etwa drei Millionen Heliumkerne nachgewiesen, darunter befand sich aber kein einziger Antikern.[21]

Der Vergleich von Modellrechnungen im Rahmen der Urknalltheorie und astronomischen Messdaten (primordiale Nukleosynthese, WMAP) spricht dafür, dass das Verhältnis von Materie und Antimaterie anfangs fast 1 zu 1 war. Ein winziges Ungleichgewicht – etwa 1 Teilchen Überschuss auf 1 Milliarde Teilchen-Antiteilchen-Paare – bewirkte, dass ein Rest an Materie übrig blieb, der in unserem heutigen Universum feststellbar ist. Dieses Ungleichgewicht von Materie und Antimaterie ist eine der Voraussetzungen für die Stabilität des Universums und somit auch für das Leben auf der Erde. Bei genauem Gleichgewicht wären Materie und Antimaterie im Verlauf der Abkühlung des Universums vollständig in Strahlung umgewandelt worden.

Der Grund für dieses Ungleichgewicht ist eines der großen Rätsel der Elementarteilchenphysik und Kosmologie; es wird vermutet, dass erst vereinheitlichende Theorien (beispielsweise Stringtheorie, M-Theorie, Supersymmetrie) diese ungleiche Verteilung zufriedenstellend erklären werden. Eine der Voraussetzungen für ein Übergewicht von Materie ist die CP-Verletzung (siehe Baryogenese). Diese wurde zuerst bei Kaonen in den 1960er Jahren entdeckt. In den 1990er Jahren wurden am SLAC in den USA 200 Millionen B-Meson-Anti-B-Meson-Paare erzeugt und untersucht, wie diese wieder zerfallen. Bei der Auswertung wurde festgestellt, dass die B-Mesonen etwa zweimal seltener in ein Pion und ein Kaon zerfallen als ihre Antiteilchen. Beim vorher untersuchten Kaonensystem lag der Unterschied bei vier zu einer Million.

Antimaterie in der Science-Fiction

Antimaterie kommt in vielen Romanen und Filmen vor, wo ihre physikalischen Eigenschaften von den wirklichen abweichen können. In der Welt von Star Trek dient eine Materie-Antimaterie-Reaktion als Energiequelle für den fiktiven Warp-Antrieb zur Erzeugung einer Warpblase und auch als Waffe. In der Heftromanserie Perry Rhodan wird Antimaterie vielfältig benutzt, etwa um Gravitations-Schockwellen abzustrahlen und so eine Nachricht zu übermitteln, vor allem aber als Basis für fortgeschrittene Waffensysteme und zur Energieerzeugung. Im Roman Illuminati von Dan Brown haben fiktive Wissenschaftler des CERN sichtbare Mengen der Substanz hergestellt und längerfristig in einer Magnetfalle gelagert.

Literatur

  • Alban Kellerbauer: Antimaterie im Labor. In: Physik Journal. 13 (Juli 2014) 27, Physik Journal – Antimaterie im Labor – pro-physik.de
    Direkter Download vom Autor: Artikel (PDF; 1,2 MB).
  • Alban Kellerbauer: Das Antimaterie-Rätsel. In: Physik in Unserer Zeit. 43 (Juli 2012) 174. doi:10.1002/piuz.201201305
    Direkter Download vom Autor: Artikel (PDF; 803 kB).
  • Helen R. Quinn, Yossi Nir: The mystery of the missing antimatter. Princeton Univ. Press, Princeton 2008, ISBN 978-0-691-13309-6.
  • Alban Kellerbauer: Antimaterie – Spiegelbild oder Zerrbild. In: Physik in Unserer Zeit. 38 (Juli 2007) 168, doi:10.1002/piuz.200601134
    Direkter Download vom Autor: Artikel (PDF; 536 kB), zus. Kapitel (PDF; 45 kB).
  • Dieter Grzonka, Walter Oelert, Jochen Walz: Experimente mit der „Antiwelt“. In: Physik Journal. 5 Nr. 3 (März 2006) 37, (PDF; 0,9 MB)
  • Dieter B. Herrmann: Antimaterie. Auf der Suche nach der Gegenwelt. 4. Auflage. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-44504-0.
  • Gordon Fraser: Antimatter – the ultimate mirror. Cambridge Univ. Press, Cambridge 2002, ISBN 0-521-89309-7.
  • Hannes Alfvén: Kosmologie und Antimaterie. Umschau-Verlag, Frankfurt am Main 1969
  • Frank Close: Antimaterie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-8274-2531-7.
  • Kapitel: Materie/Antimaterie-Antrieb. In: Eugen Reichl: Typenkompass: Zukunftsprojekte der Raumfahrt, Motorbuch Verlag, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-613-03462-4, S. 37–41

Weblinks

Commons: Antimaterie – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Antimaterie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. S. Sahoo, R. K. Agrawalla, M. Goswami: Antimatter in the Universe. (Memento vom 30. Juni 2007 im Internet Archive) (PDF; 72 kB)
  2. P. A. M. Dirac: The quantum theory of the electron. In: Proceedings of the Royal Society. Bd. 117, 1928, S. 610, Bd. 118, S. 351.
  3. Luis Alvarez-Gaume, Miguel A. Vazquez-Mozo: Introductory Lectures on Quantum Field Theory. arxiv:hep-th/0510040
  4. Edward Robert Harrison: Cosmology: the science of the universe. 2. Auflage. Cambridge University Press, 2000, ISBN 0-521-66148-X, S. 266, 433. (online in der Google-Buchsuche, abgerufen 30. September 2009)
  5. Beschreibung des Experiments
  6. nasa.gov NASA-Meldung (engl.), zuletzt abgerufen am 11. Januar 2011.
  7. G. B. Andresen u. a.: Trapped antihydrogen. In: Nature. 17. November 2010. doi:10.1038/nature09610 (engl.)
  8. Speicher für Antimaterie. bei: heise online. vom 18. November 2010.
  9. M. Ahmadi, B. X. R. Alves, C. J. Baker, W. Bertsche, E. Butler, A. Capra, C. Carruth, C. L. Cesar, M. Charlton, S. Cohen, R. Collister, S. Eriksson, A. Evans, N. Evetts, J. Fajans, T. Friesen, M. C. Fujiwara, D. R. Gill, A. Gutierrez, J. S. Hangst, W. N. Hardy, M. E. Hayden, C. A. Isaac, A. Ishida, M. A. Johnson, S. A. Jones, S. Jonsell, L. Kurchaninov, N. Madsen, M. Mathers, D. Maxwell, J. T. K. McKenna, S. Menary, J. M. Michan, T. Momose, J. J. Munich, P. Nolan, K. Olchanski, A. Olin, P. Pusa, C. Ø. Rasmussen, F. Robicheaux, R. L. Sacramento, M. Sameed, E. Sarid, D. M. Silveira, S. Stracka, G. Stutter, C. So, T. D. Tharp, J. E. Thompson, R. I. Thompson, D. P. van der Werf, J. S. Wurtele: Observation of the 1S–2S transition in trapped antihydrogen. In: Nature. Accelerated Article Preview Published, 19. Dezember 2016, ISSN 1476-4687, doi:10.1038/nature21040.
  10. Markus Becker: Physik-Rekord – Forscher fangen Antimaterie minutenlang ein. Abgerufen am 4. Mai 2011.
  11. Nina Weber: Forscher erzeugen Rekord-Antimaterie. Teilchenphysik-Durchbruch. In: Spiegel Online. 24. April 2011, abgerufen am 25. April 2011.
  12. Observation of the antimatter helium-4 nucleus. In: nature. 24. April 2011, abgerufen am 25. April 2011 (Lua-Fehler in Modul:Multilingual, Zeile 149: attempt to index field 'data' (a nil value)).
  13. Keay Davidson: Air Force pursuing antimatter weapons / Program was touted publicly, then came official gag order. (Memento vom 9. Juni 2012 im Internet Archive) In: San Francisco Chronicle. 4. Oktober 2004. (engl.)
  14. Reaching for the Stars; Far Out Space Propulsion Conference Blasts Off science.nasa.gov, abgerufen am 25. Mai 2012.
  15. antimatter propulsion daviddarling.info
  16. Antimatter propulsion at Penn State University (Memento vom 28. Juli 2012 im Webarchiv archive.today); AIMStar, ICAN-II, en.wp
  17. K. F. Long: Deep Space Propulsion: A Roadmap to Interstellar Flight. Springer, 2011, S. 229 ff. (online in der Google-Buchsuche, abgerufen am 25. Mai 2012)
  18. The PUMA project: Antimatter goes nomad. Abgerufen am 8. Juni 2021 (Lua-Fehler in Modul:Multilingual, Zeile 149: attempt to index field 'data' (a nil value)).
  19. Kellenbauer: Antimaterie im Labor. Physik Journal, S. 27 (pro-physik.de).
  20. J. Alcaraz, D. Alvisi, B. Alpat, G. Ambrosi, H. Anderhub: Search for antihelium in cosmic rays. In: Physics Letters B. Band 461, Nr. 4, September 1999, S. 387–396, doi:10.1016/S0370-2693(99)00874-6 (elsevier.com [abgerufen am 11. Mai 2020]).

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